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Venedig

Nicht allein die Form und auf keinen Fall der Lack und erst recht nicht die Grundierung bergen die außerordentlich besondere Klangkomponente der alten „Cremoneser“. Denn wenn diese „Geheimnisse“ je existiert hätten, wäre wenigstens irgendetwas aufgeschrieben worden! – Ist aber nicht!!

Material aus der damaligen Zeit unterscheidet sich mikrobiologisch-strukturell deutlich von heutigem Holz. Es gab Ahorn (Acer Pseudo Platanus), aber mit veränderter Struktur. Ich bezweifle sogar, dass die alten Meister Holz in normalem, originalem, weißem Zustand jemals gesehen haben. Auf jeden Fall, war es nicht möglich, aus unverändertem Holz klanglich so hochwertige Instrumente zu bauen. Ich bin sogar der festen Überzeugung, dass durch das Zusammenspiel von Umständen und Zufällen die Cremoneser gezwungen waren, verändertes Holz in Venedig zu kaufen. Sie hatten keine Wahl.

Mit der Fichte war es viel einfacher: Sehr alte, leichte Fichte gab es an jede Ecke in Cremona zu finden. Damals, nicht wie heute, schlug man sehr alte Fichten in Norditalien. Je älter der Baum war, umso leichter und geeigneter war er für die Verwendung als Tonholz. Heutige Fichtenhändler wollen es nicht wissen, den Geigenbauern wird alles verkauft, meistens junge, schwere Hölzer.

Wo hat die Spur des göttlichen Klanges begonnen?

In damaliger Zeit hatte sich der Gedanke gefestigt, geflammte Ahornbäume wachsen nur in Bosnien (ehemalig Teil der Türkei). Die Venezianische Republik, immer wieder im Krieg mit den Türken, handelte viel mit Dubrovnik. Man hat mit verschiedensten Waren gehandelt, nicht nur mit Holz.

Damals schlugen die Türken Bäume nicht im Winter, im hohen Schnee, sondern im Frühling, meistens während die Bäume schon wieder anfingen sich von den verschiedensten Arten von Zuckerstoffen aus der Rinde und der Erde zu ernähren.

Die Bäume mit der geflammten Deformation waren riesig, hatten mindestens 80 cm Durchmesser, meistens aber über 1 m. (Nicht schwer zu errechnen, wenn man die Wölbung und die Lage der Jahresringe genauer ansieht). Weder Kettensägen, noch LKW's, noch ordentliche Straßen waren vorhanden. Der Baum wurde per Hand klein gesägt, es muss sehr lange gedauert haben. Das einzige Transportmittel war das Pferd, oft sogar die menschliche Schulter. Und dazu kam, dass diese Bäume selten waren, wie heute auch, nicht leicht zu finden und auf keinen Fall neben dem nah liegendem Weg, sondern in den schwer zugänglichen Bereichen des Berges. Viel Zeit nahm es auch in Anspruch den Baum zu finden und ihn nach Dubrovnik zu bringen.Und alles wurde, genau wie heute, durch landwirtschaftliche Pflichten auf dem Feld, durch militärische Einsätze, durch schlechte Wetterverhältnisse, Verletzungen und Krankheiten – verhindert, erschwert. Langsam, mit Qual, Ausflüche ausstoßend und, schwitzend, näherte sich der Fahrer mit den Bäumen dem Tor Dubrovniks. Offenbar war es schon fast Sommer.

Auf diesem Wege kamen gewaltige Prozesse im Holz in Gang, Prozesse die keiner gewollt hat. Bakterien begannen Nährstoffe im Holz zu zersetzen und Flecken zu verursachen. Die ersten Risse, die natürlich keiner wollte, zeigten sich.

Schimpfend und schreiend wurde mit Dubrovniks Händlern gehandelt.

Irgendwann kamen die Venezianer und kauften alles ab. Sie lagerten das Holz im Inneren der Schiffe als Gleichgewichtsballast. Und hier veränderte sich das Holz weiter. Auf offenem Meer ist es im Innerem des Schiffes noch wärmer, die Bakterien vermehren sich, das Holz verfleckt sich weiter. Der Weg nach Venedig war lang und wurde immer wieder wegen Handelspausen unterbrochen. Der Sommer war heiß. Die Außentemperatur erreichte durchschnittliche 32° Celsius, im Inneren des Schiffes bis zu 40 Grad. (Nicht vergessen, die idealste Temperatur für die Entwicklung der Bakterien ist 39,3° Celsius).

In Venedig, im „Arsenale“ ( Handelshafen, heute Zollbereich ) befand sich damals eine riesige Holzbearbeitungsfabrik. Hier hat man, neben einem See („Laghetto del Legname“), Holz gesammelt, bearbeitet und an das gesamte klassische Europa verkauft. Ca. 40.000 Menschen waren hier beschäftigt!!

Über hunderte von Jahren hatten die Venezianer ein ziemlich großes Problem: Die riesige Menge von eingekauften Stämmen konnte, besonders im Sommer, vor Flecken und Rissen nicht geschützt werden. Was blieb ihnen anderes übrig, als das Holz in den nahe liegenden „Laghetto del Legname“ (See des Holzes) zu werfen? Im Wasser sind die Prozesse viel ausgeglichener, das Holz reißt nicht mehr. Aber im Wasser sind auch die verschiedensten Bakterien zu finden, alle aus der Gruppe der„Mikroaerofile“. Das Holz veränderte sich, diesmal ausgeglichen, ohne Flecken.

Nach längerer Zeit wurde die Farbe des Holzes hellbraun, in der Struktur verändert, optisch tief, seriöser, einfach schöner. Dieses Holz verkaufte man an den Geigenbauer aus Cremona.

Durch das Spiel des Zufalls, viel früher, kamen sogar die Balken, auf denen Venedig selbst gebaut worden war, aus diesem See. Diese Balken sind, sogar heute noch, sehr geheimnisvoll.

Unglaublich komprimiert, stark aber leicht, ohne Risse, trocken im Inneren, ohne Wurm… ein Wunder der Architektur!

Hier beginnt die geniale Geschichte des bewundernswerten Holzes, aus dem Schiffe, Ruder, Möbel … und Geigen gebaut wurden. Später hat man die ganze Venezianische Handels- und Kriegsmeeresflotte aus solchem Holz gebaut, und hier entstand eine Legende: Diese Flotte war leichter und schneller als die der anderen, nicht selten kriegerisch gelaunten, Völker. Risse im Holz gab es praktisch nicht, sogar Feuer hat es schwer gehabt mit diesem Holz. Die Venezianische Flotte galt damals als die beste der Welt. Die Venezianer waren stolz darauf, feindliche Völker hatten vor ihrer Flotte Angst.

Venezianische Balken werden noch immer in der Architektur als etwas Rätselhaftes bezeichnet... Meiner Meinung nach blieb dieses Holz im See wenigstens zwei, vielleicht sogar bis zu sieben Jahren liegen. In diesem Wasser befand sich eine enorme Menge von Holz, nicht nur von Ahorn, sondern von allen anderen Arten, die man verkaufen konnte: Buche, Eiche, Fichte usw. Alles, was auf dem Weg von Ägypten nach Cremona eingekauft wurde.

Mikroaerofile Bakterien waren am aktivsten bei wenig Präsenz von Sauerstoff. Diese haben sich systematisch von Nährstoffen ernährt, ohne die Basisstruktur des Holzes groß anzutasten. Das Wasser war schwarz, fast ohne Sauerstoff. Der Gestank war bestimmt unerträglich.

Ab und zu, meistens im Sommer, kamen Cremoneser nach Venedig, um Holz „aus dem Wasser“ zu kaufen. Und noch einmal, auf dem langsamen Weg nach Cremona, unter der Sonne, steigerte sich der Prozess im Holz, das sich voll Wasser gesaugt hatte. Die Farbe wurde erst jetzt noch dunkler und schöner. Und dann, endlich, erreichte das Holz Cremona.

Cremonische hohe Luftfeuchtigkeit erlaubte dem Holz keine Ruhe. (Cremona liegt in einem Tal, das sich wenig über der Meeresspiegeloberfläche befindet, die Luftfeuchtigkeit ist dadurch enorm hoch, nichts kann in Cremona wirklich trocknen). Bakterien arbeiteten in voller Ruhe weiter, zersetzten die Nährstoffe weiter, während die Cremoneser verzweifelten, weil das „Holz 100 Jahre braucht, um zu trocknen“. Der Geigenbauer musste Geduld üben. Jahre lang. Gerade dadurch, dass die letzten Nährstoffe aus dem Holz verschwanden, konnte es seinen endgültigen Klang bekommen.

Meine Gedanken bestätigen sich in mehreren Tatsachen: Alte Cremonische Geigen sind in der Regel spezifisch leichter als neu gebaute Instrumente: Zersetzte Zuckerstoffe, die „Marmelade“, ist nicht mehr vorhanden, das Holz ist dem entsprechend im Gewicht leichter.

Dieses Holz lässt Licht nicht durch im Gegensatz zu den neu gebauten Instrumenten.

Die Farbe des Holzes ist anders als z.B. bei den Streichinstrumenten der deutschen Meister aus derselben Zeit: Das eine Holz ist braun/dunkelbraun, das andere gelbbraun. (Die Deutschen haben direkt Holz aus Bosnien gekauft, der Weg „nach Hause“ war kurz, das Holz trocknete schnell, die Farbe blieb fast unverändert, „gesund“. Die Nährstoffe blieben leider auch im Holz.

Auf Kosten der verlorenen Nährstoffe ist das Holz nicht nur leichter, sondern enorm elastischer. Ein elastischer Geigenboden kann, mit der in Schwingung gebrachten Decke, unvergleichbar besser pulsieren. Dementsprechend ist der Klang der alten Meisterinstrumente nicht zu vergleichen mit dem der neu gebauten Instrumente.

Ich bin der Überzeugung, dass alte Meister keine andere Wahl hatten, als ihr Holz in Venedig zu kaufen. Sie haben kaum gewusst, woher dieses Holz kommt, wo Bosnien ist.

Wir können heute, von Kapritz aus, den Weg des Holzes bis zum Zeitpunkt des Instrumentenbaus zurückverfolgen. Es sind unzählige Zufälle und Ideen zu finden, aber nirgendwo existiert ein System hinter dem Geheimnisse ausfindig zu machen sind: Es gibt keine Geheimnisse, es hat sie nie gegeben, und nur deswegen waren wir seit so viele Jahren nicht auf dem Weg zu ihrer Endeckung: Eher Zufall hat uns das Göttliche im klang gegeben.


MiloStamm-Ponticelli
Milomir Stamenkovic